Am Rande eines Aufschwungs - von Alfons Cortés
Jeder Montag beginnt für mich mit einem Blick auf eine Tabelle, welche die Ratings aller wichtigen Indizes zeigt, sowohl nach Ländern und Regionen – kapital- und gleich gewichtet – als auch nach Sektoren. Ferner sind die fünfzehn stärksten und die fünfzehn schwächsten Industrien dargestellt.
Besondere Beachtung erhält ein kleines Feld mit dem Titel «Contrarian Signs».
Am 30. Oktober waren alle Felder in dieser Darstellung auf Tagesbasis positiv. Am 6. November waren alle Felder in allen Sektoren auf Tages- und auf Wochenbasis positiv.
Manchmal hadere ich mit diesen computergenerierten Signalen. Dieses Mal nicht. Sie stimmen mit meiner Meinung überein.
Die Gegenwart auf der Weltbühne
Bekanntlich geht es mir immer darum, die Gegenwart auf den Punkt zu bringen. Wobei «Gegenwart» eine Struktur des Marktes darstellt, die in einen Kontext gestellt wird, der auch die Geschichte berücksichtigt, wie es zu den aktuellen Kursen gekommen ist. Erzählt wird sie auf der Basis des MSCI Welt in der Meinung, dass in einer Zeit des freien Kapitalverkehrs und allgemein mindestens befriedigender Transparenz und Liquidität die Weltbühne der Ort ist, auf der das Haupttheater gespielt wird.
In meiner Einschätzung war der Rückschlag im MSCI Welt von Januar 2022 bis Oktober 2022 im Umfang von 27% kein Bärenmarkt, sondern eine Korrektur eines überbordenden Optimismus, der sich insbesondere in einigen Sektoren und Industrien breitgemacht hatte.
Wenn diese Einschätzung richtig war, so kann die Erholung von Oktober 2022 bis August 2023 um 29% im MSCI Welt keine Bärenmarktrally gewesen sein. Es war aber auch nicht die Wiederaufnahme des alten nach oben gerichteten Haupttrends, der von März 2009 bis Januar 2022 gedauert hatte.
Der Grund für diese Einschätzung liegt darin, dass die Marktbreite nie das Ausmaß angenommen hatte, das die Schlussfolgerung zuließ, die Anlageklasse Aktie werde grundsätzlich als attraktiv eingeschätzt. Aktien wurden selektiv gekauft. Die Handlungsattribution auf Käuferseite waren nicht die Umstände, die für Aktien sprachen, sondern spezielle Faktoren, die sich nicht einmal auf ganze Sektoren auswirkten, sondern lediglich auf einzelne Industrien innerhalb einiger, aber nicht aller Sektoren.
Daher stufe ich die Erholung als sekundären Aufwärtstrend im Rahmen eines primären Seitwärtstrends ein.
Zur Erläuterung: Der Haupttrend wird seit Charles Dow als primärer Trend bezeichnet. Er dauert in aller Regel mehrere Jahre und entwickelt sich innerhalb gewisser Standardabweichungen, die anhand von Bollinger-Bändern dargestellt werden können.
Sekundäre Trends sind Bewegungen von drei bis zwölf Monaten. In primären Seitwärtstrends lösen sich sekundäre Auf- und Abwärtstrends alle paar Monate ab. Die meisten Trends dieser Kategorie dauern sechs bis neun Monate.
Als sekundären Abwärtstrend schätze ich auch den Rückschlag des MSCI Welt von rund 11% von Juli bis Oktober dieses Jahres ein. Aus meiner Sicht ist dieser sekundäre Abwärtstrend beendet. Dafür sprechen klassische Akkumulationssignale in einigen Industrien auf globaler Ebene.
Wie verhält man sich in primären Seitwärtstrends?
Als erstes sucht man nach primären Aufwärtstrends in Industrien, die eine höhere Marktbreite aufweisen als der Sektor, dem sie zugeordnet sind.
Im «Schwarm» präsent zu sein bietet einen gewissen Schutz vor Enttäuschungen. Das allerdings nur, wenn es sich um Industrien mit einer Kapitalisierung von mindestens 3% im MSCI Welt und mindestens fünf Konstituenten handelt.
Solche Industrien müssen eine relative Stärke zum Sektor aufweisen.
Wenn auf Ebene der größten Indizes – MSCI Welt und S&P 500, der mit seiner Gewichtung von 70% im MSCI Welt sozusagen der Elefant im Laden ist – ein Seitwärtstrend vorherrscht, wird man sich nicht nur auf relativ starke Sektoren beschränken wollen, weil dadurch eine zu starke Konzentration auf wenigen Branchen entstehen würde.
In neutral zum MSCI Welt verlaufenden Sektoren kann man durchaus in relativ zum MSCI Welt starken Aktien investieren. Man wird jedoch versuchen, relativ schwache Sektoren zu meiden oder im Portfolio mindestens unterzugewichten. Alle Aktien – auch solche aus relativ starken Industrien in relativ schwachen Sektoren – müssen eine positive relative Stärke zum MSCI Welt aufweisen.
Hat man das Universum, aus welchem einzelne Aktien gewählt werden, so eingegrenzt, kann man unter den Titeln, die nicht durch das Raster der relativen Kursentwicklung gefallen sind, jene auswählen, welche die fundamentalen Kriterien erfüllen, die man für wichtig erachtet, und danach kann man das Universum nochmals reduzieren auf Aktien von Unternehmen, die aus weiteren, persönlichen Gründen besonders gefallen.
Regeln gelten immer
Besonders wichtig ist, nicht nur regelbasiert zu kaufen, sondern auch regelbasiert zu verkaufen, und zwar ausschließlich regelbasiert! Im Verkauf geschehen meiner Meinung nach die meisten Fehler. Einerseits, weil man der Versuchung nicht widerstehen kann, einen Gewinn mitzunehmen, und andererseits, weil man sich nicht überwinden kann, eine Aktie mit Verlust zu verkaufen.
Wenn große Indizes seitwärts tendieren, so tun das die wenigsten Aktien. Die Tendenz im Index ist vor allem die Folge davon, dass die Spreizung zwischen steigenden und fallenden Trends unter den Konstituenten sehr hoch ist. Wenn man in primären Aufwärtstrends breiter Indizes starke Aktien verkauft, hat man immer noch eine größere Auswahl an anderen gleich guten Aktien, in die man den Erlös aus verkauften Titeln umleiten kann. Das ist nicht der Fall, wenn die primären Trends der breiten Indizes seitwärts verlaufen. Es kann sehr schwierig sein, gute Aktien, die man verkauft hat, durch mindestens gleich gute Aktien zu ersetzen.
Ganz schlimm können die Folgen sein, wenn man sich weigert, Verluste zu realisieren. Das ist allerdings ein Gemeinplatz, der auch von der Wissenschaft munter bewirtschaftet wird. Es kann nämlich sehr schwierig sein, zu definieren, wann ein Kursrückschlag einen Verlust darstellt, den man realisieren muss. Die beste Methode, die ich kenne, besteht darin, mit Hilfe von Bollinger-Bändern auf Ebene der Kurse und mit der Glättung der relativen Preise die Marken zu bestimmen, die zur Liquidation einer Position führen müssen.
Das macht man vor dem Kauf, und in steigenden Trends zieht man diese Marken nach. Auch hier spielen die Instrumente eine Rolle, die ich soeben erwähnt habe. Die Toleranzwerte für Kursschwankungen unterscheiden sich von Sektor zu Sektor, sind abhängig von der historischen Volatilität der Sektoren und sind beim Kauf beispielsweise in einer Bodenbildung nach einer Panik höher als nach einem Aufwärtstrend, dessen Momentum sich stark beschleunigt hat.
So sieht es für mich aus
Die Börsen gehen nun in eine Phase der Erholung, in der fünf von elf Sektoren mit Vorteil gegenüber dem MSCI Welt starten, nämlich die MSCI-Indizes Energy, Financials, Information Technology, Industrials und Consumer Discretionary.
Aus Energy sind beide Industrien positiv, Energy Equipment & Services und Oil, Gas & Consumable Fuels.
In Information Technology sind insbesondere Technology Hardware & Storage, IT Services und Software gut positioniert.
In Financials sind es die Versicherer und die Banken außerhalb der USA und Kanadas.
Im MSCI Industrials sind es Construction & Engineering, Aerospace & Defense, Commercial Services & Supplies und Trading Companies & Distribution.
In Consumer Discretionary ist Multiline Retail deutlich besser als der Sektor.
Trotz aller Volatilität und trotz aller Divergenzen im Markt sind die fünf besten Sektoren die genau gleichen wie am 31. Juli, bevor der letzte sekundäre Abwärtstrend begann.
Im MSCI Energy ist seit dem 31. Juli Oil, Gas & Consumable Fuels zu den besten Industrien dazugekommen, Energy Equipment & Services ist es geblieben.
In Information Technology wurde Semiconductors durch Software ersetzt.
Im MSCI Industrials ist Machinery seit dem 31. Juli durch Aerospace & Defense ersetzt worden, die anderen drei Industrien waren damals schon in der Liga der Top 15 und sind es jetzt noch.
Im MSCI Consumer Discretionary ist Multiline Retail seit dem 31. Juli unverändert eine der fünfzehn besten Industrien aus allen Sektoren geblieben.
In Financials sind beide der fünfzehn besten Industrien neu dazugekommen.
Seit Ende Juli hat sich in der Welt sehr viel getan, und gar manches, was einerseits Schlagzeilen verursacht hat, andererseits aber auch in geostrategische Überlegungen eingeflossen ist, hat sich erst im Laufe der letzten Monate herauskristallisiert. Dennoch hatten diese Entwicklungen kaum Einfluss auf die Aktienmärkte und insbesondere auf die relative Attraktivität von Sektoren und Industrien. Das muss man schon bedenken, wenn man exogene Ereignisse wie die Schrecken im Nahen Osten, den Abnutzungskrieg in der Ukraine und die politische Schwäche der westlichen Demokratien bedenkt.
Mir ganz persönlich scheint, dass viel zu wenig Zeit auf die Analyse der Verfassung des Aktienmarktes gelegt wird, dafür aber exogenen Ereignissen viel zu viel Zeit und Bedeutung zugemessen wird, die man zur Kenntnis nehmen, aber nicht einordnen kann, weil man nie weiß, was hinter den Kulissen abläuft.
Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung von Alfons Cortés
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Alfons Cortés
Alfons Cortés ist seit März 1971 professionell an der Börse unterwegs. Bis Juni 2017 war er Geschäftsführender Partner von UnifinanzTrust reg., Vaduz. Seit Juli 2017 ist er Senior Partner im Unternehmen und für den Bereich Research zuständig. Diesem hat er von Anbeginn seiner Tätigkeit an besonderes Augenmerk zukommen lassen. Daraus erwuchs die prominente Position des Unternehmens in der Anwendung von Behavioral-, Neuro- und Evolutionary Finance. Cortés hat nicht nur als Vermögensverwalter und Analyst, sondern auch als Mitglied von Anlageausschüssen institutioneller Anleger über Jahrzehnte Erfahrungen mit den Finanzmärkten gesammelt.